Theorien historischen Lehrens und Lernens haben im Lehramtsstudium des Faches Geschichte mitunter einen schweren Stand und sind als solches Teil des oft zitierten „Theorie-Praxis-Problems“ (Matthies/Stock 2020). Viele Studierende empfinden selbst kurz vor dem Abschluss ihres Studiums "universitäre Theorie" und "schulische Praxis" als Gegensätze (Nientied/Schlutow 2017). Insbesondere diesen Studierenden fällt es häufig schwer, historische Lehr-Lernprozesse im beobachteten Geschichtsunterricht zu erkennen. Dies jedoch ist eine zentrale Aufgabe ihres zukünftigen Handelns als Geschichtslehrkräfte. Ein vielversprechendes Konzept zur gezielten fachspezifischen Profilierung subjektiver Theorien angehender Geschichtslehrkräfte - und somit um Geschichtsunterricht „sehen zu lernen“ (dies. 2020) - stellt die Professionelle Unterrichtswahrnehmung dar. Studien mit Mathematiklehrkräften deuten bereits darauf hin, dass eine verstärkte Wahrnehmung von Tiefenstrukturen und fachlich relevanten Lerngelegenheiten bei Proband:innen auftritt (Kersting u.a. 2012). Für die geschichtsdidaktische Professionsforschung jedoch sind entsprechende Studien gegenwärtig weitestgehend ein Desiderat.
Das Dissertationsvorhaben setzt an diesem Punkt an: In einer empirischen Studie verfassen Geschichtsstudierende zu drei verschiedenen Zeitpunkten ihres Praxissemesters schriftliche Statements zur Unterrichtsqualität eines Ausschnitts aus einer videographierten Geschichtsstunde. Diese Statements (N = 240) werden in einem ersten Schritt qualitativ-inhaltsanalytisch (Kuckartz 2022) mit einem Kategoriensystem in Anlehnung an Sherin/van Es (2009) und in einem zweiten Schritt deskriptiv statistisch ausgewertet.
Vor diesem Hintergrund liegt der Fokus der Studie darauf, Antworten auf folgende zwei Fragen zu erhalten:
- Wie nehmen Geschichtsstudierende Unterricht in ihrem Fach wahr und inwiefern lassen sich ihre Wahrnehmungen differenzieren?
- Inwiefern lassen sich Veränderungen in der Wahrnehmung fremden sowie eigenen Unterrichts zu verschiedenen Zeitpunkten des Praxissemesters beobachten?
Da das Praxissemester als Ausbildungsinstrument bewusst auf die Verknüpfung von wissenschaftlichem und berufspraktischem Wissen sowie Handeln abzielt (MSW 2010), wird eine Antwort auf die Frage nach der fachspezifischen Wirksamkeit dieser Praxisphase und somit ein Beitrag zur Lösung des eingangs zitierten „Theorie-Praxis-Problems“ ebenfalls angestrebt.
Zitierte Literatur:
Kersting, Nicole B. u.a.: Measuring Usable Knowledge: Teachers’ Analyses of Mathematics Classroom Videos Predict Teaching Quality and Student Learning. In: American Educational Research Journal 49 (2012), H. 3, S. 568–589.
Kuckartz, Udo/Stefan Rädiker: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, 5., überarbeitete Aufl. Weinheim 2022.
Matthies, Annemarie/Matthias Stock: Universitätsstudium und berufliches Handeln. Eine historisch-soziologische Skizze zur Entstehung des „Theorie-Praxis-Problems“. In: Claudia Scheid/Thomas Wenzl (Hrsg.): Wieviel Wissenschaft braucht die Lehrerbildung? Wiesbaden 2020, S. 215–253.
MSW = Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Rahmenkonzeption zur strukturellen und inhaltlichen Ausgestaltung des Praxissemesters im lehramtsbezogenen Masterstudiengang (https://www.zfsl.nrw.de/system/files/media/document/file/obh_ps_rahmenkonzept.pdf, aufgerufen am 14.11.2023).
Nientied, Isabelle/Martin Schlutow: Auf dem Weg zum Reflective Practitioner? Forschendes Lernen im Praxissemester Geschichte aus der Perspektive von Studierenden. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 8 (2017), H. 2, S. 143–157.
Dies.: Geschichtsunterricht sehen lernen. Professionelle Unterrichtswahrnehmung im Fach Geschichte. In: Sebastian Barsch/Oliver Plessow (Hrsg.): Universitäre Praxisphasen im Fach Geschichte – Wege zu einer Verbesserung der Lehramtsausbildung? (Hochschulpädagogik, Bd. 4). Berlin 2020, S. 95–113.
Sherin, Miriam G./Elizabeth A. Van Es: Effects of Video Club Participation on Teachers’ Professional Vision. In: Journal of Teacher Education 60 (2009), H. 1, S. 20–37.