In den letzten Jahren hat die Erforschung sozialer Vielfalt im Bildungskontext zugenommen. Diese Entwicklung zeigt sich unter anderem an der zunehmenden Ausarbeitung von inklusiven Konzepten für den Fachunterricht an Schulen (z. B. Amrhein & Dziak-Mahler, 2014; Frohn et al., 2019). Auch in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik hat sich Inklusion in der letzten Dekade zu einem zunehmend mehr beachteten Thema entwickelt, vor allem auf theoretischer Ebene (z. B. Barsch et al., 2020; Völkel, 2017). Zeitgleich fehlt es bisher noch an einer spezifisch auf das inklusive historische Denken und Lernen ausgerichteten Theorie, das sich darum bemüht, schulisches Lernen im inklusiven Geschichtsunterricht zu beschreiben. Eine Gruppe von Lernenden, die sowohl aus methodischer als auch didaktischer Hinsicht besonders von einem um Inklusion bemühten Geschichtsunterricht profitieren, sind Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten.[1] Das von der DFG-gefördert Projekt, dessen Bearbeitung im März 2021 begonnen hat, setzt sich zum Ziel, zu einer Theoriebildung über die Lernprozesse und -voraussetzungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten beizutragen, für die bis dato „ein empirisches und theoretisches Defizit attestiert werden muss“ (Rein, 2021, 12). Ausgangspunkt der Untersuchung sind die folgenden beiden Fragestellungen:
- Welche historischen Sinnbildungsprozesse vollziehen Menschen mit Lernschwierigkeiten im Kontext einer inklusiven historischen Lernumgebung?
- Nach welchen Relevanzkriterien konstruieren Menschen mit Lernschwierigkeiten Geschichte?
Mithilfe von zwei ethnographischen Feldstudien sollen Einsichten in das historische Denken und Lernen von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten generiert werden. Die erste Erhebung wurde im Mai und Juni 2022 an einem Förderzentrum mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung durchgeführt, die zweite Erhebung soll im August und September 2023 in einer vergleichbaren Schule stattfinden. Um das Feldgeschehen möglichst umfassend beschreiben und erfassen zu können, wurde auf mehrere Datenquellen (Audioaufnahmen, Feldnotizen und leidfadengestützte Interviews) zurückgegriffen und dadurch dem Prinzip der Datentriangulation (u. a. Flick, 2011) Folge geleistet. Die erhobenen Daten sollen zu einer Theorie verdichtet werden, die historisches Denken und Lernen von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten konzipiert. Als theoretischer Bezugspunkt wird dabei unter anderem auf einen in Zusammenarbeit mit Sebastian Barsch und Franziska Rein konzipierten inklusiven Framework zum historischen Denken zurückgegriffen, der bisherige Überlegungen über die individuelle Aneignung von Geschichte mit Konzepten zur sonderpädagogischen Unterstützung von Schüler*innen sowie Überlegungen über intersubjektive Austauschprozesse zusammenbringt.[2]
Bibliographische Angaben:
Amrhein, B., & Dziak-Mahler, M. (Hrsg.). (2014). Fachdidaktik inklusiv: Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Waxmann.
Barsch, S., Degner, B., Kühberger, C., & Lücke, M. (Hrsg.). (2020). Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht: Inklusive Geschichtsdidaktik. Wochenschau Verlag.
Flick, U. (2011). Triangulation: Eine Einführung (3., aktualisierte Aufl). VS, Verl. für Sozialwiss.
Frohn, J., Brodesser, E., Moser, V., & Pech, D. (2019). Inklusives Lehren und Lernen. Allgemein- und fachdidaktische Grundlagen. Verlag Julius Klinkhardt.
Rein, F. (2021). Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung: Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte. V&R unipress.
Völkel, B. (2017). Inklusive Geschichtsdidaktik: Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte. Wochenschau Wissenschaft.
[1] Unter dem Terminus ‚Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten‘ werden Personen subsumiert, die von der kognitiven Norm Gleichaltriger, die unter anderem über die Leitlinien der WHO konstruiert wird, abweichen. Mit der Formulierung ‚Lernschwierigkeiten‘ soll auf die Forderungen betroffener Personen Rücksicht genommen werden, die den Begriff als weniger negativ konnotiert interpretieren als Ausdrücke wie ‚Behinderung‘ oder ‚Beeinträchtigung‘.
[2] Der zu diesem Thema verfasste Aufsatz soll 2023 erscheinen.